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Die Wehleider

Bewertung und Kritik zu

DIE WEHLEIDER
nach Maxim Gorkis »Sommergäste«
 
Regie: Christoph Marthaler 
Premiere: 2. Dezember 2016 
Deutsches Schauspielhaus Hamburg 

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Zum Inhalt: Merkwürdige Menschen sind es, die in einer Turnhalle kampieren. Peinliche Europäer, die Integrationskurse für die vage wahrgenommenen Menschen, die über die Grenzen kommen, üben? Oder geht es um die eigene Zukunft und die eigenen Grenzen? Ist die Turnhalle ein Luxusresort, in dem das Lager, das Warten und Verhöre zur Feststellung der Identität als Übungen zelebriert werden? Geht es um Simulation oder Freizeitgestaltung?
Christoph Marthaler und Anna Viebrock werden für das Lager der Europäer und die neuen Klassenkämpfe Motive aus Maxim Gorkis »Sommergäste« verwenden. Es ist eine Gesellschaft im Stillstand und in beängstigender Hektik, gesteuert von untergründiger Angst vor dem Absturz und der Veränderung aller Verhältnisse. Die einen verteidigen einen Status quo, die anderen wollen ihn – allerdings nur fiktiv – auflösen. Viel Gerede und Überformung der Ängste verdrängt, was in Wirklichkeit stattfindet. Außerhalb finden Katastrophen statt, die von den Turnhallenbewohnern genauso wenig wahrgenommen werden, wie alles, was die Fiktion des guten Europas stört. Doch die Vertreter dieser Fiktion werden sich in der Zukunft für Verbrechen an den Grenzen, in den Lagern, für die unsinnige Verteidigung eines Wohlstands für Wenige, legitimieren müssen. 

Mit Joaquin Abella, Marc Bodnar, Jean-pierre Cornu, Bendix Dethleffsen, Haizam Fathy, Altea Garrido, Sachiko Hara, Rosemary Hardy, Irm Hermann, Jan-peter Kampwirth, Anne Müller, A.j. Navarro, Josef Ostendorf, Martin Pawlowsky, Sasha Rau, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Graham F. Valentine, Gala Othero Winter

Regie: Christoph Marthaler
Bühne und Kostüme: Anna Viebrock
Dramaturgie: Stefanie Carp
Licht: Annette Ter Meulen
Inspizienz: Felicitas Melzer
Ton: Heiko Jooß, Christoph Naumann

TRAILER

3.0 von 5 Sterne
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Vor oder nach dem Zusammenbruch?
8 Jahre her.
Kritik

Die Turnhallen sind wieder frei. Die Nachhaltigkeit im Umgang mit den Flüchtlingen hat ihre Erfolge gezeigt. Nun können hier andere Gäste einziehen. Denn die Kliniken für die Europäer, die Symptome der Überforderung zeigen, sind überfüllt. So müssen diese "Wehleider" in die Turnhallen einziehen und auf den bunt bezogenen Matratzen schlafen, die ihre Vorgänger hinterlassen haben. Zum Glück ist die Organisation, die beide Einrichtungen betreibt die selbe: Helpdesk. 

Die Europäer sind überfordert. Die Aufforderung zum Teilen war zu viel der Veränderung für sie. Was, ihre Physiotherapeuten sollen sie sich teilen? Was, auf ihre Putzfrau sollen sie verzichten? Was, ihre Zweit-Eigentumswohnung verliert aufgrund der Nähe zu einer Flüchtlingsunterkunft an Wert? Ihre Kultur-Kultur wollten diese Europäer verteidigen, doch welche Werte sie eigentlich erhalten wollen, wissen sie selbst nicht mehr. 

Die Psychologin und Leiterin der Turnhallen-Anstalt (Irm Hermann) richtet mahnende Worte an ihre Schützlinge: Jüngere und Fittere als ihr werden kommen, mit denen ihr dann mithalten müsst. Also verschreibt sie Übungen mit dem Medizinball, an den Ringen, zur Aerobic-Musik und Psychopharmaka. Also entsorgt sie die Handys und konfrontiert ihre Patienten mit ihren überaus trainierten, dunkelhaarigen, arabisch sprechenden Pflegern, anscheinend wunderbar flexibel im deutschen Arbeitsmarkt angekommen.

Christoph Marthaler zeigt eine degenerierte, dekadente Gesellschaft, die satt an ihrer Selbstzufriedenheit und ihrem Reichtum zugrunde geht. Anhand der Asyl suchenden Flüchtlinge wurden ihre Leerstellen so deutlich, dass ihre Zurückweisung sie in den Abgrund reißt. Marthaler blickt in die düstere Zukunft: Europa wird vor den Weltgerichtshof zitiert werden, da ihre Abschottung zu einem Völkermord und Bürgerkrieg geführt haben. Stotternd stehen die Herren in ihren Anzügen und versuchen sich wortreich heraus zu reden. Erinnerungen an die Nürnberger Prozesse werden wach.

Marthaler legt hier gleich die gesamte EU auf die Coach und schickt sie vor ein Welttribunal, vor das sonst eher afrikanische Diktatoren zitiert werden. Das soll aufrütteln und wird dabei auch überdeutlich. Den gewohnten Marthaler-Stil der melancholischen Langeweile verweigert er seinen Zuschauern hier. Selbst vom gesungenen Liedgut bleiben nur noch gesummte, angerissene Versatzstücke übrig. Zum Schluss liegen die Europäer in Unterwäsche auf dem Matratzenberg wie angeschwemmte Halbtote übereinander. Die schöne Humanität ist zur Paranoia verkommen.

Birgit Schmalmack vom 29.12.16

www.hamburgtheater.de
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