Bewertung und Kritik zu
REICH DES TODES
von Rainald Goetz
Regie: Karin Beier
Premiere: 11. September 2020
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Eingeladen zum 58. Berliner Theatertreffen (2021)
Zum Inhalt: Die Krise boomt und mit ihr die Macht der Politiker, die sie zu managen haben. Überall wird in Menschen- und Bürgerrechte eingegriffen, vorübergehend mag das notwendig sein, doch es ist auch die Sternstunde der Autokraten: Orbàn, Erdoğan, Kaczyński, der polnische Justizminister Ziobro, sie alle benutzen die unumgängliche Bekämpfung der Pandemie, um ihre Herrschaft weiter nachhaltig auszubauen.
„Vive la crise!“, dieses Zitat von Proust könnte Rainald Goetz seinem neuen Theaterstück voranstellen, denn auch er beschreibt eine Regierung, die im Schatten einer drohenden Gefahr mit Furor und vermeintlich patriotischem Eifer Demokratiezerstörung betreibt. Es geht um den „Krieg gegen den Terror“, den George W. Bush unmittelbar nach den Anschlägen von 9/11 deklarierte. Wie jetzt? Wieso beschäftigt sich Goetz erst heute mit dem, was im Namen dieses Krieges an Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen in Amerika selbst, vor allem aber auch im völkerrechtswidrigen Irakkrieg geschah? Inklusive der Übergriffe und Folterungen in amerikanischen Gefangenenlagern wie Abu Ghraib? Journalistisch sind diese Ereignisse doch umfassend dokumentiert. Nun, um Dokumentation geht es Rainald Goetz ganz offensichtlich nicht: Die realen Personen der Zeitgeschichte, Bush und sein Regierungskabinett sowie die Täter*Innen von Abu Ghraib verbannt er in eine „Hades“ betitelte Aufzählung unterhalb seines Personalverzeichnisses. Die Stückfiguren nehmen zwar die gleichen Positionen ein, Goetz gibt ihnen aber andere Namen, die auch an Persönlichkeiten aus verschiedenen Zeiten erinnern: Roon, preußischer Kriegsminister des 19. Jahrhunderts, Kelsen, der berühmte Verfassungsrechtler der Weimarer Republik, oder auch Schill, ehemaliger „Richter Gnadenlos“ und Innensenator in Hamburg. Diese Mehrdeutigkeit hat System: Ständig fordert Goetz zu neuen Kontextualisierungen auf, zum Teil durch direkte Anspielungen, beispielsweise auf den deutschen Faschismus. Zum anderen setzt er mehr assoziative Impulse durch Mottos, Zwischentitel, Musiken, die er zitiert, Nebenwelten, die unausgesprochen mitschwingen, dem Stück dennoch eine größere Reichweite verleihen. Goetz versucht – grundsätzlich und spielerisch zugleich – über Strukturen von Machtpolitik und Machtmissbrauch nachzudenken. Krisen können Sternstunden für Autokraten, auch Diktatoren werden, das zeigt die Geschichte. Goetz stellt in diesem Zusammenhang die finstere Frage: Welche Faktoren müssen denn zusammenkommen, damit der Exzess, das „Böse, Kaputte“ Oberhand gewinnen kann?
Mit: Sebastian Blomberg, Eva Bühnen, Sandra Gerling, Daniel Hoevels, Josefine Israel, Markus John, Anja Laïs, Burghart Klaußner, Wolfgang Pregler, Lars Rudolph, Maximilian Scheidt, Tilman Strauß, Michael Weber, Holger Stockhaus, Percussion: Yuko Suzuki, Theofanis Gioles Blatsoukas, Oud: Wassim Mukdad, Cello: Michael Heupel, Bratsche: Anna Lindenbaum, Violine: Camilla Busemann, Tänzer: João Pedro de Paula, Sayouba Sigué, Samuli Emery.
Regie: Karin Beier
Bühne: Johannes Schütz
Kostüme: Eva Dessecker, Wicke Naujoks
Komposition und Musikalische Leitung: Jörg Gollasch
Videodesign: Voxi Bärenklau
Licht: Annette ter Meulen
Einstudierung Sprechchor: Christine Groß
Körpertraining und choreografische Mitarbeit: Valenti Rocamora i Tora
Mitarbeit Videorecherche: Vanessa Christoffers-Trinks
Dramaturgie: Rita Thiele, Ralf Fiedler.