Das vielleicht berühmteste Stück von Peter Hacks, inszeniert von Brecht-Enkelin Johanna Schall, gespielt von einer Schauspielerin, die Absolventin der "Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch" ist, und das alles nicht etwa im "Deutschen Theater" oder im "Berliner Ensemble", sondern im Herzen des alten West-Berlin, nämlich im "Renaissance-Theater" ? So ganz nebenbei ist hieran auch abzulesen, was sich seit 1989 alles verändert hat.
Dabei ist diese intelligente Fiktion aus dem Jahre 1976 alles andere als ein Spiegel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Sie bildet vielmehr in einer Momentaufnahme die Empfindungen und Überlegungen einer berühmten Hofdame aus dem Herzogtum Weimar ab, jener Charlotte von Stein, die als Geliebte des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist. Was der Autor Peter Hacks hier als exzellente literarische Fingerübung vorlegte, hat seither seinen Weg über die Bühnen der Welt gemacht und ist an 200 deutschen Theatern und in 21 Ländern der Erde aufgeführt worden. Und das alles, obwohl das Stück des DDR-Autors keinerlei radikale Tendenzen erkennen und jedes revolutionäre Pathos vermissen läßt. Oder vielleicht gerade deshalb ?
Anika Mauer ist Charlotte von Stein, die in der stillen Häuslichkeit ihres Weimarer Heims in der vermuteten Gegenwart ihres Gatten Freiherr Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein, herzoglicher Stallmeister von Sachsen -Weimar-Eisenach eine Art Herzensbeichte ablegt. Anknüpfungspunkt ist die Romreise ihres Geliebten, des Ministers Johann Wolfgang von Goethe, die dieser im Jahre 1786 ohne Abschied oder Erlaubnis quasi über Nacht angetreten hatte und von der er erst zwei Jahre später zurückkehrte. Die enttäuschte, jählings verlassene Charlotte von Stein macht reinen Tisch mit ihrem Monolog, der an Goethe kein gutes Haar lässt und dennoch die sehnsüchtige Erwartung seiner Rückkehr überall durchklingen lässt.
Alles, was ihr bleibt, sind Erinnerungen und Goethes Briefe, die sie in einer voluminösen Schublade aufbewahrt. Dabei verschlingt sie diese Briefe keineswegs, sondern hat sie manches Mal erkennbar ungelesen liegen lassen, um den lobeshungrigen Goethe quasi ein wenig zappeln zu lassen. Die monologisierende Charlotte erinnert sich ausgiebig, wie sie den Ihr ans Herz gelegten Dichter, streckenweise ein ungehobelter Flegel und überdies ein konsequent selbstbezogener Hypochonder, Schritt für Schritt zu einem umgänglichen Menschen mit sogar ein paar liebenswerten Eigenschaften umerzogen hat.
Anika Mauer schafft es in bewunderungswürdiger Form, diesem Monolog der Herzensergießungen eine Struktur und eine spannende Dramaturgie mitzugeben. Sie spricht mit volltönender Stimme, die sich bis zum geflüsterten Hinweis "Pause" dämpfen läßt. Sie wahrt stets die Contenance einer gebildeten Dame, kann sich aber auch herrlich versprechen, wenn ihr ein Unwort nicht über die Lippen will. Sie läßt ein Porzellantäßchen zu Boden fallen und sammelt die Bruchstücke dann wieder in einen Blecheimer ein. Johanna Schall inszeniert den ganzen Ablauf aus einer ironischen Distanz, die der szenischen Lebendigkeit gut bekommt. Charlotte von Stein setzt sich ans Cembalo, spielt einige Takte und lässt dann das Instrument wie selbstverständlich die Melodie allein fortführen. Ja, und dann kommt endlich die mehrfach apostrophierte Post und bringt ein Paket vom abwesenden Herrn von Goethe, "aus Rom", wie Charlotte mit Bewunderung festhält. Es enthält wieder einen der Briefe für die Schublade und eine Herakles-Statue, die zunächst auf einem Beistelltischchen Platz findet, bevor Charlotte sie wieder in distanzierender Geste zu Boden gleiten läßt.
Das Publikum dankt mit anhaltendem Applaus für einen Abend intelligenter Unterhaltung und eine bewundernswerte schauspielerische Leistung.
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