Premiere: 16: August 2023 Ruhrtriennale Bochum Eingeladen zum 61. Berliner Theatertreffen (2024)
Zum Inhalt: Am Ende einer durchfeierten Nacht erleben zwei Geschwister, deren enges Verhältnis in der Kindheit durch ein Drama jäh zerstört worden war, einen besonderen Moment der Nähe. Nach zwanzig Jahren sind sie fähig den Zusammenbruch des Systems zu verstehen, das dieses traumatische Ereignis ermöglicht hat. Jetzt entwerfen die beiden Erwachsenen mit neuer Empfindungs- und Analysefähigkeit einen möglichen Handlungsspielraum und damit eine Zukunft.
Die Regisseurin und Choreografin Gisèle Vienne setzt mit dieser neuen Arbeit ihre ebenso bewegende wie rigorose Dekonstruktion des Wahrnehmungssystems in seinen gesellschaftlich geprägten narrativen und psychischen Strukturen fort. Hierfür erforscht sie gemeinsamen mit den Spieler:innen und Tänzer:innen Katia Petrowick, Adèle Haenel und Theo Livesey die Archäologie eines Moments der ganz besonderen Empfindung. Sie erfindet eine künstlerische Sprache, die es ermöglicht perzeptive Schichten der Erfahrung der Gegenwart auseinanderzufalten: Vergangenheit, Gegenwart, antizipierte Zukunft, Erinnerung und Wunschvorstellung.
Konzept, Choreografie, Regie, Szenografie: Gisèle Vienne Kreiert mit und performt von Adèle Haenel, Theo Livesey, Katia Petrowick Originalmusik: Caterina Barbieri Sound Design: Adrien Michel Licht: Yves Godin Text: Adèle Haenel, Theo Livesey, Katia Petrowick In Zusammenarbeit mit Dennis Cooper Kostüme: Gisèle Vienne, Camille Queval
Die performative Stückentwicklung bleibt bewusst rätselhaft, als das Duo aussteigt und die Kino-Starschauspielerin Adèle Haenel hinzukommt, bewegen sie sich demonstrativ nur in Zeitlupe. Im Hochparkett macht sich Unruhe breit, im Parkett gähnten viele Lücken, obwohl die Vorstellung offiziell ausverkauft war.
Die 10er Auswahl des Theatertreffens wagt sich hier in Grenzbereiche vor: ästhetisch lassen die entschleunigte Spielweise und die langen gleichförmig vor sich hinplätschernden Textpassagen viele im Publikum kalt, auch räumlich ist der Abend in der Peripherie des Festivals. Das Hans Otto Theater liegt so weit am Rand der brandenburgischen Landeshauptstadt, in der das Leben an diesem Feiertags-Vorabend sowieso nicht brodelt, dass sich das Publikum schon um 21.30 Uhr mit überfüllt vor sich hinschaukelnden Nachtbussen nach Wannsee durchschlagen muss. Dort fährt aber auch nur im 20 Minuten-Takt die nächste S-Bahn ins Berliner Zentrum. Ein Festival-Shuttle wäre deshalb eine sehr gute Idee gewesen!
Der Abend verharrt aber so sehr in einem hermetischen Abwehrmodus und ähnelt stilistisch schwächeren Freie Szene-Arbeiten, so dass er vom Theatertreffen-Publikum nur verhalten aufgenommen wurde. Auch der tänzerische Abschluss des Trios überzeugt nicht.
Bemerkenswert ist eine Lichtdesign-Sequenz, die Yves Godin etwa im Mittelteil des Abends gestaltet. „Extra Life“ löst sich hier von seinem eigenwilligen Zwitterzustand aus unterspannter, textlastiger Performance mit Nebelmaschine und Anklängen an Tanz und wandelt sich zu einer eindrucksvollen Installation bildender Kunst, unterlegt vom Sounddesign von Adrien Michel. Diese kurze Passage lohnt den Besuch tatsächlich.