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    Ödipus, Tyrann

    Bewertung und Kritik zu

    ÖDIPUS, TYRANN 
    nach Heiner Müller
    Regie: Peter Atanassow
    Premiere: 27. Oktober 2021 
    Freilufttheater in der Jungfernheide Berlin

    Zum Inhalt: Die Pest herrscht in Theben und mit ihr das Warten auf die Antwort einer Frage: Was tun? Kreon, ausgesandt, das Wort des Orakels zu überbringen, kehrt mit einer klaren Botschaft des Gottes Apollon zurück: Demnach befände sich der Mörder des Königs Laios noch im Lande und müsse verbannt oder getötet werden, um den Pestfluch zu beenden. König Ödipus schwört vor der Bürgerschaft, die Untat aufzuklären - nicht ahnend, am Ende dieser Ermittlung selbst der gesuchte Mörder zu sein.
    Das Stück erzählt vom Verhältnis der Menschen zu Ordnung und Gesetz, erzählt vom Konflikt zwischen Bestimmung und Freiheit der Entscheidung. Für aufBruch führt die Geschichte unmittelbar zum Sinn von Theater im Gefängnis: Wie geht man um mit Tat und Strafe? Kann man unschuldig schuldig werden?

    Mit Adrian Zajac, Apo, Chris-Bär Templiner, Frank T., Gino, H. Peter Maier C.d.F., Horst Grimm, Hüdayi, Jürgen, Kurt Lummert, Mladen Stimec, Paul E., Resul Tat.

    Regie: Peter Atanassow
    Bühne: Holger Syrbe
    Kostüme: Melanie Kanior
    Dramaturgie: Hans-Dieter Schütt
    Musikalische Leitung: Vsevolod Silkin
    Choreographie: Ronni Maciel
    Produktionsleitung: Sibylle Arndt
    Regieassistenz: Binks Mooney
    Technik: Lukas Maser
    Grafik: Dirk Trageser

    5 von 5 Sterne
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    Das Tragische als Kraft
    2 years ago
    Kritik

    Das Gefangenentheater in der JVA Tegel, gibt im regennass-dunklen Herbst dieser Tage das Drama: [i]Ödipus Thyrann, [/i]in der Fassung Heiner Müller, der die Übersetzung Hölderlins zugrunde legte. Eine romantische Sprache aus einer anderen Zeit wirkt also hier als Bindeglied der Gegenwart zur Antike. Dazu gibt es ein davon abgetrenntes Vorspiel, einen Tanz der Pestwächter. Denn immerhin kommt ja die Suche nach dem Mörder des Laios erst 20 Jahre nach seinem Tod in Gang, als nämlich Theben die Pest wütet und schon beinahe den Königspalast erreicht. Diese Konzeption ist grade in diesem Herbst genial, denn das Pest-Vorspiel wirkt wie ein Synonym für unsere immer wieder neu aufflammende Corona-Bedrohung, die Pestwächter mit ihren hervorstechenden Augengläsern, den wie Vogelschnäbel scharfen schwarzen Kopfmasken, die jeden Moment auf einen einzustechen scheinen, sie laufen durch die Straßen, sie lauern, sie beugen sich zu einem Opfer nieder, sie tragen einen Toten. Das spielt sich im alten Trakt von Tegel ab, einem Gefängnis, das man durch vier Schleusen, rechts und links vier Meter hohe Mauern, oben Natodraht-Rollen, nach einer Leibesvisitation, nach Abgabe selbst der Taschentücher, mühevoll und eingeschüchtert durch eine gewaltige Staatsmacht, in diesen Tagen vollkommen durchgenässt, erreicht. Die Mühen, die man selbst dafür auf sich nahm, sind nichts im Vergleich zu der Tragik, die einen sofort nach Beginn des Stückes, schon mit dem Vorspiel von Eugene Ionesco in die Handlung quasi hineinsaugt. Danach sofort das Geniale der „Volksszenen“: Zehn Männer, schlicht in weißen Wickel-Hemden und grauen Hosen zeitios uniformiert, bilden mal Soldaten, mal einfache Bürger, mal tot umfallendes Straßenvolk. Und obgleich sie nur auf einem Laufsteg im Zwischenstockwerk der umlaufenden Gefangenengänge flanieren  -  es fehlt jegliches weiteres Requisit -  so sieht man doch alles, als sei es reich bebildert: Die Marktszene, das nächtliche Treffen zweier Kollegen, die immer schärfer werdenden Wächter und Bestimmungen, alles wird durch die Sprache und die ungeheuer intensive Rezitierkunst der Gefangenen und ihrer eigenen Tragik, die hier wie mit in das Stück verwoben scheint,  bebildert. Gleichzeitig sieht und hört man heutige Corona- Kommentare, Abgrenzung: Nur der ist gefährdet der sich unhygienisch hält, nur dort, in den Armenvierteln…nur wer sich nicht an die Regeln hält…, nur die Kranken, die Alten… doch dann kennt man einen gestern erst Gestorbenen, sieht einen anderen plötzlich umfallen, und welche laufen weg in Angst… Dazu kontrastierend Klaviermusik von Orff, die eher leicht daher kommt, auch das sehr gelungen.

    das Beste daraus: Das alte Haus von Rocky-Docky, wie das die totgeweihten Bürger rausschmettern, und wie es in den uralten schweren metallenen Gefängnis-Treppenhausfluchten aus den Gefangenenkehlen wiederhallt, das ist sehr tiefgründig: 

    [i]

    Das Haus von Rocky Docky sah Angst und Pein und Not Es wartet jeden Abend auf's neue Morgenrot

    [/i] [i]

    Dieses Haus ist alt und hässlich Dieses Haus ist kahl und leer Denn seit mehr als fünfzig Jahren Da bewohnt es keiner mehr

    [/i] [i]

    Dieses Haus ist halb verfallen Und es knarrt und stöhnt und weint

    [/i] [i]

    Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt Kein Wunder, dass es zittert Kein Wunder das es bebt Dieses Haus will ich bewohnen Komm' vom Wandern ich zurrück Denn das Haus ist voller Wunder und voll heimlicher Musik

    [/i]

    Wenn danach das Drama in Theben mit der Rückkehr Kreons aus Delphi beginnt, wissen wir also, in welcher Situation die Stadt sich befindet, welche Aussichtslosigkeit also vorlag, welche Opfer es also schon gegeben hatte, wie die Stadt eine des Todes und des Sterbens war und alle, alle in Angst vor dem Tod und dem Ende lebten, in der Stadt gleichsam ähnlich gefangen wie in dem Gefängnis mit seinen uralten Röhren und Stahltüren drum herum. Auch wie Theresias im Rollstuhl, begleitet von einem Blinden, mehrfach unten aus der Tür in die Szenen kommt, meist nur unverständlich murmelnd, manchmal verstummt, scheinbar dumm, steht symbolisch für die Vergeblichkeit menschlichen Strebens und doch die Wahrheit, dass alles aus unserer Vergangenheit herrührt und man da also nachforschen muss, wie im Programmheft sehr passend dazu Alexander Kluge zitiert wird: Die Menschen, sagt er,  trügen wie in einem Tornister Eigenschaften der gesamten 4,2 Milliarden Jahre Menschheitsgeschichte mit sich, Erzähler müssen wie Maulwürfe sein, um das gesellschaftlich Unbewusste an die Oberfläche zu bringen.      

    Die großen Rollen dieses Stückes, Jokaste mit einem älteren Mann, ohne Perücke, ohne Manieriertheit, Kreon (

    Resul Tat

    ) durch einen schwarz gewandeten Heißsporn, und Ödipus selbst, sind genial besetzt. Paul E. als Ödipus schafft es mit seinen großen Augen Sensibilität, größte Trauer und Weichheit auszudrücken, und als er dann „sehend“ wird,  ist sein Begreifen und Erfassen der ungeheuren Schuld ganz großes Theater! Seiner Schuld, die ja nicht nur im Ermorden des Vaters besteht und der „Blutschuld“, sondern auch in den langen, langen Jahren des Niedergangs und Sterbens der Stadt durch die Pest, bestand, der Strafe der Götter, die man damals als gegeben annahm.  Er hat sie also alle getötet, die ganze Stadt und nur durch seinen Frevel, seine eigene Flucht vor dem ihm geweisssagten Schicksal, an das er glaubte. Hätten er und seine Eltern nicht daran geglaubt, wäre alles anders gekommen. Den Zuschauern laufen Schauer über den Rücken. Aus während der Arbeit am Text von den Gefangenen angefertigten Texten geht hervor, dass sie das Stück alle mit ihrem Leben in Verbindung bringen können, große Gedanken, Zitat: …[i]Zerrissenheit bleibt dem wahrhaft Suchenden immer erhalten!...  [/i]und:  …[i]das Verdrängte existiert und wird sich seinen Weg ins Bewusstsein bahnen….Man muss Kraft aufbringen um zu verdrängen, immer wissend, dass etwas nicht stimmt. Es wird an uns nagen. Es ist Lüge statt einer echten Lebenshilfe!...[/i]

    Das merkt man dem Spiel an. Ihnen ist, wie die Gefangenen anschließend im Publikumsgespräch bestätigen, das Spielen etwas Existentielles. Befreiung, Ausbruch. Hin zum anderen, zu einer Welt jenseits der Mauern. Sie spielen uch um ihr Leben, eine Zukunft jenseits ihrer Schuld. [i]Das Tragische ist etwas sehr Vitales[/i], schreibt Heiner Müller, [i]als eine Bereicherung des Lebens und des Theaters ist es verloren gegangen,[/i] er aber, schreibt er, sähe  einen Menschen untergehen und das gäbe ihm Kraft. Genau das ist hier gelungen, nicht Depremiertheit bleibt zurück, wenn wir hier Ödipus untergehen sehen, sondern Kraft, Ehrfurcht, Respekt entsteht in uns. Respekt vor dem Leiden als existentielle Erfahrung.

    Eine sehr starke Aufführung, die weit über das antike Drama mit der romantischen Sprache hinausgeht. Der Applaus war entsprechend, die Nachfrage auch, schon nach 23 Minuten waren sämtliche Aufführungen ausverkauft. Aber es gibt einen Film, er wird in einigen Wochen auf der Webseite des Theaters zu sehen sein, schaut ihn euch an, es lohnt sich! Großartige Leistung, Dank an das Gefangenenensemble mit seinem Regisseur Peter Atanassow!

    Anja Röhl [url=http://www.anjaroehl.de/][color=#1155cc] www.anjaroehl.de [/url]

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