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Die letzten Tage der Menschheit

Bewertung und Kritik zu

DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT 
von Karl Kraus
Regie: Dušan David Pařízek 
Premiere: 25. Juli 2025 (Perner-Insel, Hallein) 
Salzburger Festspiele
Wien-Premiere: 5. September 2025 (Übernahme ins Repertoire)
Burgtheater Wien

Zum Inhalt: Karl Kraus’ monumentales Drama Die letzten Tage der Menschheit ist eine scharfsinnige und bittere Abrechnung mit den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Zwischen 1915 und 1922 verfasst, stellt Kraus in den über 200 Szenen die Abgründe des Krieges in all ihrer grotesken und gleichermaßen unerträglichen Absurdität dar: von der zynischen Verblendung der Politik über die Desinformation durch die Presse bis hin zur dumpfen Gleichgültigkeit der Bevölkerung. Kraus deckt schonungslos auf, wie die Verflechtung von Machtinteressen und Kriegspropaganda, zusammen mit einer Gesellschaft, die bereitwillig den Lügen glaubt, den Wahnsinn des Krieges überhaupt ermöglicht. Im Vorwort betont er: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Kraus schöpft aus dokumentierten Begebenheiten und aufgeschnappten Dialogen, was sein Publikum zu Zeug·innen einer Welt macht, die sich sehenden Auges in den Krieg stürzt. Kraus selbst hat Die letzten Tage der Menschheit zunächst als Lesestück gedacht und es erst 1928 für die Bühne freigegeben. Als „Marstheater“ sei es geschrieben, denn keine irdische Bühne könne dieses Pandämonium je vollständig aufführen, heißt es im Vorwort.

Dušan David Pařízek ist für seine kraftvollen, atmosphärischen Regiearbeiten bekannt und wurde für seine Tätigkeit als Autor, Regisseur und Bühnenbildner vielfach ausgezeichnet. Seine Inszenierung für die diesjährigen Salzburger Festspiele wird die verstörende Aktualität von Kraus’ Fragen freilegen. Was macht Menschen empfänglich für Desinformation, Populismus und Propaganda? Woher rühren die Verblendung und der Glaube an die Unabdingbarkeit von Gewalt? Welche Gesellschaft überlässt das Denken und Handeln lieber anderen? Pařízek setzt sich mit degenerativen Phänomenen und Erscheinungen der Gegenwart auseinander: dem Ende einer zivilisatorischen Epoche, die ihren prägenden Ausdruck im selbstzerstörerischen Streben nach Macht, in der Verherrlichung „gerechter“ Kriege und in der emotionalen wie ethischen Haltlosigkeit findet. Eine bedrückende Welt, in der offenbar wird, dass wir in Anbetracht der heutigen Krisenherde und des in Europa wiedererstarkenden Nationalismus alle Verantwortung tragen, dass Kraus’ Anklage alle betrifft, Mitläufer·innen ebenso wie Machthabende. Eine düstere Vision wie eine unheilvolle Warnung aus der Vergangenheit. Sie stellt die Frage nach der moralischen Verantwortung eines jeden Einzelnen in einer Gegenwart, die akut von Populismus, Desinformation und Kriegstreiber·innen geprägt ist.

Regie und Bühne: Dušan David Pařízek
Kostüme: Magdaléna Vrábová
Licht: Reinhard Traub
Besetzung: Marie-Luise Stockinger, Michael Maertens, Dörte Lyssewski, Felix Rech, Elisa Plüss, Branko Samarovski

 

2 Bewertungen

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Dramaturgisch holprig mit Dialekt-Revue und Ensemble-Kabinettstückchen
1 Monat her.
Kritik

Als roter Faden zieht sich das Spiel mit den Dialekten durch die Miniaturen: von Wienerisch bis Hanseatisch, von Rheinhessisch bis Schweizer Akzent entsteht ein bunter Bogen, der Spaß macht, während der mehr als drei Stunden als „running gag“ aber auch totgeritten wird.

Glanzstück der Inszenierung ist natürlich das Starensemble des Wiener Burgtheaters, das diese Aufführung der Salzburger Festspiele koproduziert und zur Eröffnung der neuen Spielzeit ins Repertoire übernimmt. Branko Samarowski, einer der Helden aus der Ära des kürzlich verstorbenen Burgtheater-Direktors Claus Peymann, spielt den Patrioten, der von einem schnellen Sieg in zwei, maximal drei Wochen ausgeht und immer kleinlauter wird. Ein Ehehöllen-Duell liefern sich Michael Maertens und Dörte Lyssewski als deutscher Diplomat Sigmund Schwarz-Gelber und seine überkandidelte Schauspieler-Gattin Elfriede Ritter-Schwarz-Gelber.

Für Kabinettstückchen ist gesorgt, schon in der ersten Hälfte gibt es aber immer wieder Längen. Nach der Pause zerfasern „Die letzten Tage der Menschheit“ zusehends. Pařízek, der sein Markenzeichen, die Overhead-Projektionen, ebenso exzessiv einsetzt wie die Live-Videokamera, neckt das Publikum mit mehreren vermeintlichen Schluss-Szenen, bevor das Ensemble neu setzt und stets rhetorisch in den Saal fragt: Was fühlen Sie jetzt?

Dramaturgisch holpert es gegen Ende der langen drei Stunden gewaltig. Die schauspielerischen Glanzlichter und die Dialekt-Nummernrevue können nicht kaschieren, dass Pařízek sichtlich Probleme hatte, den schwer spielbaren Stoff in den Griff zu bekommen.

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Die hilflosen Hände des Nörglers
1 Monat her.
Kritik

''Kein Kritiker versäumt es, zu erwähnen, worin der Sondercharakter von Kraus’ „Marstheater“ innerhalb der dramatischen Produktion besteht: In seiner Überlänge. Bei Pařízek: Fehlanzeige. In der Fülle der Figuren und Charaktere. Bei Pařízek: Fehlanzeige. Im zyklischen Charakter von Szenen, die dem Montage-Prinzip ein Gegengewicht liefern. Bei Pařízek: Fehlanzeige. In der dramaturgischen Ausnahmestellung von Nörgler und Optimist in ihrer periodisch wiederkehrenden gegensätzlichen Außensicht. Bei Pařízek: Fehlanzeige. Kurz: die Salzburger Festspiele haben mit Pařízek die Chance verspielt, zu realisieren, was vom Repertoirebetrieb schwer zu stemmen ist, wie einst mit Luk Percevals Schlachten!. Zugleich liefert das Versäumnis einen Beleg, dass die Entlassung der Schauspielchefin Marina Davydova, die aus den Fotos des Direktoriums herausretuschiert wurde wie einst Trotzki aus den Fotos des Politbüros, jenseits von allen Ausreden mit einer gewissen Plausibilität aufwarten kann.

Aber das Problem Davydova ist kein Problem Davydova, sondern ein Problem Salzburger Festspiele. Was geschieht mit jenen, die Frau Davydova mit Getöse eingestellt haben? Was geschieht mit den Kommentatoren, die sie mit Vorschusslorbeeren überhäuft haben? Ziehen die jetzt endlich einmal Konsequenzen? Oder machen sie weiter wie Landesherren, die Willkür, sei es gegenüber Michael Maertens, sei es gegenüber Marina Davydova, walten lassen dürfen, ohne jemals Verantwortung übernehmen zu müssen? Sie wurden mit Karacho, aber ohne Folgen von ihrer eigenen Feigheit eingeholt. Die Salzburger Festspiele bestätigen ihren Ruf als antidemokratischer Apparat einer Clique. Nicht, weil Davydovas Programm in diesem Jahr so gut gewesen wäre – das war es nicht –, sondern weil man so mit Menschen (mit Männern wie mit Frauen) nicht umspringen darf, sollte man den Salzburger Festspielen Bescheid geben.

Und weil Pařízek das radikal zusammengestrichene Stück zu kurz geraten ist, hängt er rund eine halbe Stunde mit eigenen Fragen an das Publikum an. Aber er ist kein Hermann L. Gremliza und kein Franz Schuh und erst recht kein Karl Kraus. Seine Fleißaufgabe ist eine einzige Peinlichkeit, die den Nachweis erbringt, dass nicht nur andere ihn sondern vor allem er sich selbst kolossal überschätzt. Der Schrecken bleibt aus. Könnte es sein, dass das Medium Theater, mit oder ohne Mars, dem Stoff nicht mehr angemessen erscheint, dass eine Fernsehserie wie Babylon Berlin das besser kann?'' schreibt Thomas Rothschild am 7. August 2025 auf KULTURA-EXTRA

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