Kritik
„Familie ist so wichtig“ - davon ist Ike überzeugt. Doch seine Vorstellung davon unterscheidet sich stark von der seines Bruders Cliff, der eine Tanzschule betreibt. Ike will tanzen lernen, allerdings nicht aus Leidenschaft, sondern als Mittel zum Zweck. Dabei schrumpft der Kreis der „Familie“ unter seiner Führung durch seltsame Rituale immer weiter. Figuren tauchen auf, verschwinden, während Ike unbeirrt seinem Plan folgt. Selbst als die Tanzschule seines Bruders Cliff brennt, bleibt er im Takt. Immer wieder rückt Marko in den Mittelpunkt - ein Tänzer, der ebenso rätselhaft wie zentral bleibt. Am Ende fährt er mit Cliff gen Süden - zu Klara. „Erst der Tanz dann die Frau“ so sein zweiter Slogan.
AUS GEBRÜTET ist der dritte Teil der Geschichte rund um Marko - einem verschwundenen Balletttänzer - und gleichzeitig der Einstieg in die Trilogie, deren zweiter und dritter Teil als Stream on demand abrufbar sind und vor dieser Inszenierung bereits aufgeführt wurden. Eine temporeiche tragische Komödie von Cordt Mannigel, die durchweg in der Regie von Ralf Blank Kurzweiligkeit und Spannung hält. Das Besondere ist das wirkungsvolle Zusammenspiel von Schauspielern und Ballett-Tänzern. Die Ballerinos zeigen klassische, Contemporary Elemente oder Charakter Tanz und wechseln dabei immer wieder in die sprachliche Darbietung während die Schauspieler sich ebenso im Tanz bemühen. Gerade in tragenden Momenten werden die besonders kurz gehaltenen Szenen mit häufigem und oft stark coloriertem Lichtwechsel so intensiviert, während sich die Drehbühne wie ein Uhrwerk aus vergangener Zeit dazu dreht. Als Zuschauerin durfte ich nicht abschalten, um all die kleinen Nuancen bei dem hohen Tempo nicht zu verpassen, wollte es aber auch nicht. Durch das gewählte Theaterstreaming-Format dieser Inszenierung war ich ganz nah dran und fühlte mich besorgt, betroffen, beeindruckt und angesprochen. Die beiden Hauptrollen Ike und Cliff mochte ich, obwohl sie doch beide immer wieder von den Ballerinos in unterschiedlichsten Sprachen dem Publikum gegenüber als nicht vertrauenswürdig angemahnt wurden. Ike, gespielt von Olaf Meier, führt das Spiel clownesk und unaufgeregt an, so lehnt er das seitens seines Cousins Hudson, differenziert von Till Sandkühler dargestellt, beiläufig angebotene Ruder seines Bootes ab, stets im Bewusstsein, dass alles nach einem vorbereiteten Plan abläuft. Kevin Michael Boiger gibt sich als Mitbesitzer der Tanzschule geheimnisvoll und will mit Ike’s Chevrolet abtauchen, nach dem Geldeintreiben. Héctor Boto Herreras, virtuos, ist als Ramiro mal souveräner Tanzlehrer und mal abgeklärt. Olaf Czajkowski ist als Kamil komisch, tänzerisch kommentierend, ein Harlekin, wie er selbst sagt. Lorenzo Vian ist tänzerisch kraftvoll als Davide die versteckte Puppe, die sich nicht in Cliffs autoritär geführten Tanzschule einsperren lässt und sich Raum verschafft. Alle Verwicklungen und Verstrickungen der Figuren hier wiederzugeben würde den Rahmen meiner Rezension sprengen. Mir ist wichtig zu betonen, dass es immer Neues und Vertiefendes oder Überraschendes zu entdecken gibt, vom Autor oder der Regie so immer beabsichtigt oder nicht, ist weniger relevant, da entdeckungswürdig. Cliff, ausbalanciert gegeben von Ralf Blank, merkt offensichtlich gar nicht, wie sein Bruder ihn lockt und bugsiert. Dabei folgt er und lässt folgen.
Die Weggefährten von Ike und Cliff sind nicht erfolgreich und die „Familie“ wird doch, wie eingangs erwähnt, immer kleiner. Ob es die beiden sind oder ob sie ihre Ziele erreichen, möchte ich nicht vorwegnehmen oder verraten. AUS GEBRÜTET wird weiter vom Theater shortvivant im Stream zu festen Terminen mit auch amüsantem Live-Intro angeboten. Ich fühle mich wie ein Kreisel gedreht und angesteckt von dieser Spielkraft trotz atemlosem Szenenwechsel. Das scheint ein Stilmittel der Regie zu sein. Das gesamte Ensemble trägt es mit. Mir gefällt es. 4,5 von 5. Ich runde unterstützend auf.