Kritik
zweieinhalb stunden wut ohne pause, texttechnisch verzapft von der hochgeistlichen nobelpreisträgerin elfriede jelinek, die sich vor dem preis windete, wie frollainwunder vor der zu erwartenden textflut. die jelinek (un)erschrocken produzierte, als im januar 2015 die welt und die der pressefreiheit einen tiefen schock erlebte. die wahnsinnigen brüder kouachi und das massaker in paris. in den redaktionsräumen der satirezeitschrift "charlie hebdo". elf tote.
die redaktion von "charlie hebdo" hatte es gewagt die mohammedkarikaturen von kurt westergaard aus der dänischen jyllands-posten nachzudrucken. im fahrwasser der grausamkeit überfiel einen tag später amedy coulibaly einen koscheren supermarkt, um schutz für die kouachi-brüder zu erpressen. 4 tote. dem doppelten wahnsinn nähert sich jelinek mit rasenden sätzen. regisseur nicolas stemann hat sich schon mit jelineks kopfgeburten auseinandergesetzt und das spröde. im deutschen theater ist es aber martin laberenz, der bruder der witwe von christoph schlingensief, und man fragt sich wieviel ungestümen schlingensief er wohl eingeatmet hat am familiären küchentisch. schwester aino laberenz hat die edlen und auch albernen kostüme für diese theater-„wut“ entworfen und sich maßvoll ausgetobt. martin laberenz ist jahrgang 1982 und angriffslustig. mit volksfreund andreas döhler (der biberkopf aus „alexanderplatz“), dem geschmeidigen sebastian grünewald, linn (reusse), anja (schneider) und sabine (waibel) als energiefrauenfront funktioniert die ensemble-ebene prächtig. die fünf berserkern sich in abendgarderobe und mit sektglas (wasser in plastik) durch die textlawine, laberenz lässt ihnen pausen, in denen die vierte wand erschöpfung verhindert und ironischer volkswitz amüsiert, in den sich besonders gern döhler reinkniet. es gibt viel zu hören und viel zu sehen. wer nachdenken will, hat zu tun, wer impulse will, kann sie greifen. jelinek schafft es durch laberenz in die zuschauerreihen. und auf die bühne, als alte hysterische ego mit der kultfrisur, schmalen roten lippen und sehr gelben hosen. sabine waibel liefert die verspannte ikone auf den bitterkomischen punkt ab und doehler als zorniger zeus (wut, zorn, dt), verfängt sich mit ihr in einer sinnloslustigen diskussion über das fremdgehen (und die wut dazu). waibel jammert später noch in einer videoversion in jelineks befindlichkeitswelten herum. diese regie-schlenker bringen uns die schwierige autorin aber näher, verhöhnen sie nicht lieblos. am ende trifft jelineks- rundum-zorn auch gott. vater? erlöser? täter? und ein nackter jesus windet sich. applaus für viel inspiration und eine regie, die unter schwierigen bedingungen zu fesseln wusste.