Er ist ein vergleichsweise später Brecht, dieser „Kaukasische Kreidekreis“, ein Vorspiel und fünf Akte, entstanden 1944/45 im amerikanischen Exil des Autors, 1948 in Northfield/Minnesota auf englisch uraufgeführt und erst 1954 am heutigen Spielort, dem Berliner Theater am Schiffbauerdamm, erstmals auf deutsch gezeigt - mit Helene Weigel in der Rolle der Magd Grusche. Das Stück ist ein reifes Beispiel für Brechts episches Verstandestheater, das die Illusion durch Verfremdungseffekte stört und stattdessen lehrhafte Nutzanwendungen anbietet.
Dem Regisseur Michael Thalheimer steht der Sinn nicht nach einem trockenen Lehrstück mit solchen dezent dialektischen Nutzanwendungen. Er setzt mehr aufs derb Vordergründige, lässt das Spiel einleiten und begleiten durch grob-grelle E-Gitarrenriffs, animiert die Akteure zu betont vernehmlicher Artikulation und macht schließlich aus dem im Urtext allenfalls sanft karikierten Dorfrichter Azdak eine hemmungslos dilettierende, von Kunstblut übergossene Klamaukfigur.
Was aber nicht heissen soll, dass der Abend nicht doch eine ganze Reihe bemerkenswerter schauspielerischer Leistungen zu bieten hätte. Allen voran die naiv mütterliche Magd Grusche (Stefanie Reinsperger), die mit ihrem natürlichen Mitleidsempfinden zwischen die Fronten gesellschaftlicher Fixierungen und festgefügter Rollenbilder gerät. Klar umrissen und in seiner Haltung stets verständlich: Nico Holonics als Grusches Verlobter Simon Chachawa. Er zieht in den Krieg und findet bei seiner Rückkehr die Verlobte Grusche entgegen der Absprache mit einem Kind vor. Ihrem Verlobten sagt sie, das sei nicht ihr Kind, aber als der Verlust des Kindes droht, erklärt sie es zu ihrem eigenen, weil sie es aufgezogen und versorgt habe. Dabei ist der kleine Michel eigentlich der Sohn des bei Unruhen umgekommenen grusinischen Gouverneurs und seiner Frau Natella Abaschwili (Sina Martens), die sich aber als verwöhnte Oberklassen-Vertreterin lediglich für schöne Kleider und ihre häufige Migräne interessiert.
Beide Frauen finden sich vor dem Richterstuhl des Intuitiv-Richters Azdak (Tilo Nest) wieder, der eher per Zufall zu diesem Amt gekommen ist und nach ausführlicher Selbstdarstellung nun entscheiden soll, welcher von beiden das Kind zugesprochen wird. Sein Urteilsspruch ist höchst unkonventionell: jede der beiden Frauen soll versuchen, das Kind zu sich herüberzuziehen. Ein Kreidekreis wird für diese Prozedur nicht gezogen. Stattdessen waten die beiden Konkurrentinnen durch das schwappende Kunstblut zum Richter, wo der Azdak eine flüchtige Kreislinie gezogen hat. Zweimal lässt Grusche sich dabei den Wickel mit dem Kind entgleiten, und eben deswegen wird ihr das Kind am Ende vom Azdak überraschend zugesprochen. Anschliessend sucht der Dorfrichter das Weite, wird nimmer gesehen und lebt nur im Volke als Legende fort. Von der einstigen Moral, die Brecht mit dem Richterspruch verband, bleibt hier nichts übrig.
Die Rolle des kommentierenden Sänger-Erzählers übernimmt (mit zeitweiliger Mikrofonverstärkung) der verdienstvolle Ingo Hülsmann. Ein Panzerreiter mit argwöhnischen Feststellungen ist Carina Zichner. In der Rolle des nahezu sterbenden, dann überraschend wiederbelebten Aushilfs-Gatten der Grusche glänzt Veit Schubert, und den beredten Bruder der Grusche spielt Sascha Nathan. Als kauzige Schwiegermutter steuert Peter Luppa ein paar komödiantische Akzente bei.
Das Publikum spendet anerkennenden Applaus. In dessen Verlauf mischen sich dann ein paar zaghafte Buhrufe (aus dem Parkett!), die andeuten, dass diese Sicht auf Brecht wohl doch nicht jedermann zusagt.
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