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    Kritik über: Das Feuerschiff
     
    Es gehört zur heutigen Berliner Theaterpraxis, mitunter auch Stücke mit mehr oder weniger expliziten politischen Inhalten aufzuführen. Was die besondere Stellung der Inszenierung „Das Feuerschiff“ nach der Erzählung von Siegfried Lenz (Regie: Josua Rösing) des Deutschen Theaters Berlin in diesem Kontext ausmacht, ist nicht nur der für heute höchst relevante Konflikt zwischen bewaffneten und unbewaffneten Menschen, sondern vor allem der Umfang der Diskussion überhaupt: das Theater fungiert hier als ein Agent, der eine brennende Frage aus der Gesellschaft übernimmt – die Frage nach dem Umgang mit Gewalt – seine Mittel zur Verfügung stellt und den Zuschauern persönliche Einsichten zu politischen Themen ermöglicht. Diese Struktur haben viele Theaterstücke inne: der Dramentext enthält sowohl eine konflikthafte Situation, als auch Schlussäußerungen der Figuren zu ihren erlangten inneren Lösungen. Im Falle der Inszenierung „Das Feuerschiff“ geht aber der komplexe Vorgang der Lösungsgestaltung weit über die schriftliche Vorlage hinaus und erweist sich als gesellschaftlich umfassend: die Frage nach dem Umgang mit bewaffneter Bedrohung ist ein Hauptthema der heutigen Politik vieler Länder. Die theatralen Zeichen fungieren, in Abwesenheit von schlüssigen Äußerungen der Figuren und indem sie keine eindeutige Botschaft darbieten, ausschließlich als Gedankenauslöser. Dadurch wird die Antwort dem Zuschauer überlassen, entsteht in seinem Inneren und gelangt durch ihn in die Gesellschaft zurück, wo die Frage überhaupt entstanden ist. 
    Die Zusammenkunft dreier Aspekte des Menschenlebens in derselben Inszenierung  –  die Politik, das Theater und die Suche des Einzelnen nach Antworten – bildet eine solide Grundlage für einen Theaterabend voller gesellschaftlich relevanter Gedanken. Umso verwunderlicher ist es, dass nach der Premiere des „Feuerschiffs“ im März 2016 so gut wie keine solchen Gedanken schriftlich geliefert wurden. Insofern bietet die Inszenierung auch einen guten Anlass zum Nachdenken über die heikle Beziehung zwischen der Bühne und dem Publikum und über deren Ansprüche aneinander.
    Die folgende Analyse konzentriert sich zum einen auf die Rezeption des Abends, zum anderen auf den inszenatorischen Aspekt der Aufführung, mit dem Zweck,  eine Interpretation des Ganzen zu formulieren. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Szene, die in ihrer Mehrdeutigkeit am meisten von dem Rezipienten verlangt: das offene Ende. Anders als in der Erzählung von Siegfried Lenz bietet die Schlussszene in Josua Rösings Inszenierung keine expliziten Hinweise auf den Ausgang der Geschehnisse: nach Freytags letzter Weigerung, das Schiff in Bewegung zu setzen, endet der Abend mit einem lauten Knall, zugleich wird die Bühne in Dunkel getaucht und für ein paar Sekunden bleibt nur ein kleines Video mit steigendem Wasserniveau sichtbar. Offen ist nicht nur die Frage, wer getötet wurde, ob nur der Kapitän, ob vielleicht auch der Sohn oder die anderen, sondern auch die Frage, ob die szenisch eingesetzten Zeichen zu einer folgerichtigen, politisch relevanten Interpretation führen können.
    Während ein uneindeutiger Ausgang einer Handlung zu einer persönlichen Lesart einlädt und als Kriterium für eine positive Einschätzung des Werkes dienen kann, wurde das offene Ende des „Feuerschiffs“ in der Presse als Begründung enttäuschter Erwartungen angeführt. Es gehört zum Wesen der Kunst, dass sie offene Fragen stellt. Doch das Spezifische der Rezeption liegt in der Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit der Kunst und im Streben nach sinnvollen, strukturierten, begründeten Antworten. Notwendig wäre also auch im Falle dieser Inszenierung die Bereitschaft der Zuschauer, sich aktiv am theatralen Prozess zu beteiligen, unter anderem indem sie sich die Gestaltung einer Interpretation zu ihrer Aufgabe machen. Lassen wir uns von dem einfachen Aufbau der Inszenierung nicht täuschen: nur vier Schauspieler und ungefähr eine Stunde sorgen für die Darstellung einer auf mehr als 100 Seiten erzählten Handlung mit mehreren Figuren. Reduktion bedeutet in diesem Fall keineswegs Vereinfachung, wie es im Folgenden zu erläutern gilt.  Damit die Aufführung ihre volle Wirkung entfalten kann, bedarf sie einer längeren Überlegung auf Seiten der Zuschauer, sowohl bei der Deutung der Schlussszene, als auch im Falle verschiedener dramaturgischen Entscheidungen, die zu komplexen ästhetischen Prozessen innerhalb einer einfachen Struktur führen.  
    Um die Frage zu beantworten, ob sich aus den verwendeten Zeichen eine politisch relevante Botschaft ergeben könnte, sei hier die folgende – mögliche – Interpretation dargestellt: die Inszenierung warnt vor der Selbstgefährdung einer Gesellschaft, indem sie die tragischen Konsequenzen einer Spaltung zwischen dem Entscheidungsträger und seinen Leuten im Kontext der bewaffneten Bedrohung darstellt. Insofern fungiert sie als ein Aufruf zum Zusammenhalt vor der bewaffneten Gefahr. In einem Drama wie dieses, das mit einem vermutlich tödlichen Schuss abrupt endet, ist das menschliche Versagen offensichtlich: mithilfe theatraler Mittel wird zu unserer Belehrung gezeigt, wie eine menschliche Handlung scheitern könnte – eine Lösung lässt sich gestalten, indem man sich mit den Ursachen des Scheiterns auseinandersetzt.
    Zunächst gilt es, ein paar Anmerkungen zum Rahmen der Handlung zu machen: das Bühnenbild besteht aus einem Metallgrill, einer gepolsterten Rückwand mit quadratischen Fenstern für Videoprojektionen und wenigen, im blauen Licht getauchten Gegenständen (Holzbänken, Treppen, Ventilatoren). All diese Elemente deuten eher diskret, obwohl unverkennbar, auf die Einrichtung eines Schiffes (Bühnenbild: Mira König). Die Schauspieler agieren in einem engen Raum auf der Vorderbühne. Anders als in den meisten Inszenierungen des Deutschen Theaters stehen ihnen ausschließlich zwei seitlich gelegene Ein- und Ausgänge zur Verfügung, was als frühzeitiger Hinweis auf eine Entweder-oder-situation dienen könnte (wie z.B. Bedrohung oder Erpressung); der Rahmen, in dem man Entscheidungen treffen muss, bietet keinen alternativen Ausgang.
    Die Mannschaften, die in dieser Inszenierung gegeneinander antreten, werden von jeweils zwei Schauspielern verkörpert: die Besatzungsmitglieder von Ulrich Matthes als der Kapitän Freytag und von Timo Weisschnur als dessen Sohn Fred; die verbrecherische Bande von Hans Löw als Dr. Caspary, der Anführer, und von Owen Peter Read als Eugen/Edgar, der in Doppelrolle zwei Brüder spielt. Noch auffäliger als das numerische Gleichgewicht zwischen den gegnerischen Mannschaften wirkt hier die Nummer vier: durch sie wird auch ihre seit alten Zeiten bekannte Symbolik des Todes in die Inszenierung eingebettet. Diese dramaturgische Entscheidung steht in voller Übereinstimmung zu den wiederholten Bezugnahmen auf Endsituationen in der Novelle (es handelt sich um ein Schiff bei seinem letzten Einsatz, einen alten Kapitän bei seiner letzten Wache und einen Sohn, der sich an einem bestimmten Zeitpunkt entscheidet, wegzugehen). Inszenatorisch kommt durch die Einführung der Nummer vier eine zusätzliche Betonung des Themas Ende/Tod hinzu, da diese Nummer den tragischen Ausgang schon im Voraus ahnen lässt.
    In der Erzählung von Siegfried Lenz treffen die drei Verbrecher auf eine mehrköpfige Besatzung, die sie numerisch deutlich übersteigt; in Rösings Inszenierung stehen auf der Bühne zwei gegen zwei – wie könnte man diese auffällige Abweichung von der Textvorlage verstehen? Die Tatsache, dass in der Theaterpraxis die Zahl der Schauspieler mit der Zahl der Figuren sich nicht immer deckt, ist dem heutigen Zuschauer bekannt. Im Falle des „Feuerschiffs“ wird aber diese Vorgehensweise nicht explizit gemacht: unter „Besetzung“ wird als einzige Ausnahme die Doppelrolle Eugen/Edgar angemerkt. Doch während der Aufführung lässt sich schnell feststellen, dass Timo Weisschnur nicht nur die Rolle des Sohnes, sondern auch verschiedene Szenen anderer Besatzungsmitglieder übernimmt, die also nicht abwesend sind, auch wenn sie nicht genannt werden. Daher ist anzunehmen, dass an der szenischen Handlung mehr als vier Figuren beteiligt sind und dass einige von ihnen, aufgrund einer Ähnlichkeit, von demselben Schauspieler verkörpert werden. Durch feinfühlige schauspielerische Ausdifferenzierungen werden also die folgenden Figuren der Besatzung von Timo Weisschnur wiedergegeben: Zumpe, der die Waffen der Bande in dem Boot entdeckt und später in Konflikt mit Eduard gerät; Rethorn, der Steuermann, der von der Identität der zwei Brüder Eugen und Eddie in den Nachrichten erfährt; Soltow, der mit der Aufgabe betraut wird, das Boot der drei Schiffbrüchigen zu reparieren; Gombert, der seiner Krähe das Sprechen beigebracht hat; Trittel, der Eugen mit einem Messer ermordert; Philippi, der die Direktion über die Geschehnisse auf dem Schiff unterrichtet; und schließlich Fred, der Sohn des Kapitäns. Was sie gemeinsam haben, ist, dass jeder auf seine Weise und an einem bestimmten Zeitpunkt in der Erzählung den Kapitän hintergeht. Man kann wohl behaupten, dass in dieser Inszenierung vier unterschiedliche Antriebskräfte agieren: die bewaffnete Gefahr (Eugen und Eddie), der Manipulationsversuch durch Erpressung, Bestechung oder Schmeicheln (Dr. Caspary), der passive, von Freytag ausdrücklich aufgeforderte Widerstand, den er aber als einziger vertritt, und die rebellische Haltung der Besatzung gegenüber ihrem Kapitän, die zur Verwicklung ins Spiel der Aggresivität und der Manipulation führt.
    Ihr erstes Zusammentreffen, wenige Sekunden nach dem Beginn der Aufführung, geschieht ohne Worte. Nach einem kurzen Gespräch zwischen Freytag und Fred werden die Verbrecher an Bord geholt: durch deren etwas raschen Auftritt werden der Vater und der Sohn in verschiedene Richtungen gedrängt und physisch voneinander getrennt. In den folgenden – stillen – Augenblicken gewähren uns die Schauspieler kostbare Einblicke in ihre Rollen: Hans Löw als Dr. Caspary, groß, elegant und selbstsicher, übernimmt durch seine Positionierung die Kontrolle über die Vorderbühne. Owen Peter Read spaziert arrogant und frech durch den Raum, während Timo Weisschnur sich eher verwirrt zurückzieht. Gleichzeitig macht Ulrich Matthes mehrere abstandhaltende Schritte in eine unklare Richtung, den Ankömmlingen etwas zugewandt, als würde er sich instinktiv vor ihnen in Acht nehmen; doch der Ausdruck bleibt unvollständig: der Gang wird gebremst, unter Kontrolle gebracht und der Schauspieler neigt sogar dazu, sich hier und da aufzuhalten. Es ist, als ob der erste unkontrollierte Impuls der Selbstverteidigung auf bewusst gewählten Widerstand stieße. Es wirkt auch wie ein Versuch, die wahrgenommene, jedoch noch nicht bestätigte Gefahr zu verleugnen. Matthes‘ widersprüchliche Bewegungen bauen eine gespannte Stimmung auf, die sich in die Atmosphäre hinein zu zwängen beginnt und den Raum bis zum Ende der Aufführung nicht mehr verlässt. Insofern geht sein Spiel weit über die Figur des Kapitäns hinaus: man könnte sagen, dass es den Konflikt spürbar macht, bevor die ersten Worte zwischen den vier Männern gewechselt werden.
    Als sich die Gefahr bestätigt – mit der Entdeckung der Waffen in dem fremden Boot ist plötzlich keiner mehr in Sicherheit – versucht Freytag die Ordnung auf dem Schiff zu behalten, indem er untätig gegen die Bande bleibt, Gewaltakte zu vermeiden versucht und dasselbe von seiner Crew auffordert. Aber die Ruhe, die in der Eröffnungsszene seine Haltung kennzeichnete, gewinnt der Kapitän nach dem Auftritt der Verbrecher nicht mehr zurück, auch wenn er ständig darum kämpft. Zum Ausdrücken solcher inneren Bewegungen setzt Ulrich Matthes insbesondere seine ausgeprägten stimmlichen Fähigkeiten ein: Der Kapitän empfängt die Fremden freundlich, mit einem aufrichtigen Blick und sogar mit einem kleinen Lächeln, doch seine Nervosität wird sofort in der Stimme hörbar, als seine erste Frage im Raum erklingt: unerwartet laut und angespannt erkundigt er sich, ob die Ankömmlingen etwas trinken wollen. Dieser Ton, diese Energie, die man für eine höfliche Frage nicht verwenden würde, wirken hier wie eine Ablenkung von Gedanken und verraten dadurch Freytags unruhige Stimmung. Im weiteren Verlauf des Abends lässt sich das Streben nach Ruhe mehrmals in Matthes‘ Sprachmelodie bemerken, auch wenn es in dem Wortwechsel mit den anderen nicht explizit darum geht: es sind Sätze mit völlig anderer inhaltlicher  Bedeutung, die aber in einem so tiefen und entschlossenen Ton enden, dass es kaum vorstellbar wäre, dass jemand deren Harmonie stören könnte. Und doch muss es in diesem Konflikt zwangsläufig geschehen.
    Gegen Ende, im Kontext der Ungehorsamkeit seiner temperamentvollen und rebellischen Leute, nach einer Auseinandersetzung mit dem Sohn, nach der Ankündigung der ersten Todesfälle, mischt sich plötzlich Caspary mit einer Aufforderung ein und stellt sich etwas bedrohlich in Freytags Weg. In diesem Moment bricht Freytag in Wut aus und schreit Caspary seine Ablehnung ins Gesicht – und zwar sofort und laut, als wollte er keinen Tropfen Druck mehr auf sich nehmen. Einigermaßen überraschend tritt diese heftige Reaktion ein, wenn man bedenkt, wie viel Selbstkontrolle Freytag bisher gezeigt hat. Es wird offensichtlich, dass die eigene Crew für die in den letzten Szenen aufgelaufene Spannung gesorgt hat, statt ihren Kapitän zu unterstützen. Dieser hält trotz aller Widrigkeiten an seiner Entscheidung bis zum Ende fest, doch die vielen zweifeln an der Entscheidungsfähigkeit des einen Verantwortlichen. Denn nicht nur einzelne Menschen, sondern auch deren Beziehungen zueinander stehen hier unter Druck.
    Aufgrund der Tatsache, dass in der Inszenierung die Besatzungsmitglieder einen einzigen Stellvertreter haben, gewinnt die Figur des Sohnes an Bedeutung. In der Novelle gehört er nicht zur Besatzung, was zur Ausdifferenzierung zweier Ebenen führt: die der Handlung und die des Vater-Sohn-Konflikts. In der Inszenierung sind diese Ebenen nicht getrennt, da Fred als Bestandteil der Besatzung auftritt und die Entscheidungen des Kapitäns in Frage stellen kann. Dadurch rückt der Konflikt zwischen dem Vater und dem Sohn in den Vordergrund und wird, als handlungsentscheidende Komponente, eng mit dem Ausgang der Geschehnisse verknüpft. So erklärt sich vielleicht die zentrale Stelle, die die erzählerische Auseinandersetzung zwischen Fred und Freytag innerhalb der kurzen Aufführung übernimmt.
    Die Szene enthält zwei ausführliche, nacheinander geordnete Darstellungen derselben vergangenen Ereignisse – es geht um Freytags unterlassene Hilfeleistung (Jahre zuvor) gegenüber einem Kameraden, was der Sohn als eine aus Feigheit getroffene Entscheidung versteht – und gipfelt in dem ungefähr 15 Minuten langen Monolog des Kapitäns. Der langsam voranschreitende Anfang gibt den Ton für die kommende Szene an: mit dem Vorwurf der Feigheit, der vom Schauspieler Timo Weisschnur mit Kälte und Enttäuschung ausgesprochen wird, setzt sich  eine distanzierte Stimmung zwischen den beiden durch. Auch räumlich lässt sich dasselbe Verhältnis beobachten: während der Erzählung des Sohnes sind sie fern voneinander, der eine auf der einzigen dem Publikum zugewandte Holzbank sitzend, solange er spricht, der andere sich neben einer abseits gelegenen Bank aufhaltend. Freytags einzige verbale Teilnahme an der Erzählung besteht aus einer Frage, die er hin und wieder zum Bestätigung des Gehörten stellt: „Erzählen sie das?“ Matthes‘ Spiel verwandelt den szenisch einfachen Vorgang in eine Art Dialog auf körperlichem Niveau, indem er sich minimaler Bewegungen bedient, als Reaktion auf die an den Kapitän gerichteten Vorwürfe. Diese lehnt er nicht ab, sondern lässt geduldig auf ihn wirken; langsam kehrt er sich fast mit dem Rücken gegen das Publikum, den Kopf gedreht und gesenkt, so dass man sein Gesicht aus dem Zuschauerraum für eine Weile nicht sehen kann.  Scham? Schuld? Gewissensbisse? Seine Haltung veranlasst den Verdacht, dass die Beschuldigung gerechtfertigt sein könnte. Die Selbstverteidigung tritt mit auffälliger Verzögerung ein.
    Als er in den Monolog einsteigt, schreitet Matthes zu dem anderen und übernimmt für die Dauer seiner Erzählung die zentrale Position auf der Sitzbank vor dem Publikum, doch scheint er zugleich wegen seiner intimen Beugung dem Kollegen leicht zugewandt. Die mehrminutige, sprachlich geschickte Schilderung des biografischen Vorfalls fordert die Einbildungskraft des Zuschauers heraus und setzt, in Abwesenheit von szenischen Bewegungen, ausschließlich auf die Fähigkeit des Schauspielers, in erzählerischer Form Bilder hervorzurufen. Figuren der Vergangenheit und spannungsgeladene Vorkommnisse tauchen in einem raschen, energievollen Tempo auf und stellen eine vielschichtigere Situation dar, als die vom Sohn beschriebene – womöglich mit der Schlussfolgerung, dass  Freytag seine damalige Entscheidungen nicht aus Feigheit, sondern aus Mangel an realistischen Alternativen getroffen hat. Matthes‘ schauspielerische Meisterleistung zeigt sich aber nicht nur in der lebendigen Schilderung der vergangenen Geschehnisse, sondern auch in der Einbettung der gegenwärtigen Spannungen in sein Spiel: für Freytag scheint es eine dringende, emotionsgeladene Sache zu sein, Fred von der Richtigkeit seiner Entscheidungen zu überzeugen, was sich in dem hastigen, selbstverteidigenden Ton ausdrückt. Nie bekommt der lange Monolog die Tönung einer Erzählung, sondern besteht auf einem kommunikativen Ausdruck, als Teil der jetzigen Auseinandersetzung. Zum Schluss begründet Freytag sein Handeln durch die Tatsache, dass ihm die Helden und Märtyrer, die „sich um jeden Preis den Gewehrmündungen“ anbieten, verdächtig sind und dass sie mit ihrem Tod nichts entschieden haben: „"Ich war nie ein Held. Und ich möchte auch kein Märtyrer werden; denn beide sind mir immer verdächtig gewesen: sie starben zu einfach, sie waren auch im Tod ihrer Sache noch sicher – zu sicher, glaube ich, und das ist keine Lösung. Ich habe Männer gekannt, die starben, um damit etwas zu entscheiden: sie haben nichts entschieden, sie ließen alles zurück. Ihr Tod hat ihnen selbst geholfen, aber keinem anderen." Diese Äußerung, die kennzeichnend für seine Figur ist, spricht Matthes mit Überzeugung aus, zugleich aber sanfter, den Schluss des Dialogs schon vorbereitend, während er sich dem anderen nähert. Die Szene endet, im Kontrast zu ihrem Anfang, mit einer Berührung: der Vater verstrubbelt (zärtlich-mahnend) dem Sohn die Haare.
    Die zwei miteinander schwer zu vereinbarenden Einblicke in Freytags Biografie geben Auskunft darüber, worin die Wurzeln des Konflikts mit seinem Sohn liegen; gleichzeitig aber stellen sie auch die Weichen für den kommenden Ablauf der Handlung: wird der Sohn lernen, seinem Vater zu vertrauen und dessen Duldung der Verbrecher zu verstehen, oder wird er auf seiner von jügendlicher Impulsivität geprägten Auffassung von Heroismus beharren? Auch wenn in dieser Szene ein kritischer Moment aus Freytags Vorleben im Fokus steht, wird hier eigentlich der Sohn auf die Probe gestellt: seine Reaktion wirkt für die heikle Situation auf dem Schiff entscheidend.
    Freds Entschlüsse nach der obenbeschriebenen Auseinandersetzung stehen uns wörtlich nicht zur Verfügung, jedoch werden sie uns durch ihre Einbindung in die Endszene indirekt geliefert. Sie können deshalb ausschließlich von den verwendeten szenischen Zeichen abgeleitet werden. Als aufschlussreich für die Stellung des Sohnes – und zugleich der Crew – zwischen dem Kapitän und der verbrecherischen Bande erweisen sich zum Beispiel die genaue Beobachtung und die Deutung der Kostümfarben. Diese variieren von Weiß (Eddie/Eugen) und von einem elegant aussehenden Weiß-Beige (Caspary) zu einem unbestimmten, relativ hellen Grau-Blau (Fred) und schließlich zu dem angenehmen, klaren Blau für Freytag. Am auffälligsten ist hier die Wahl der weißen Farbe für die gewalttätigsten Figuren. Allein diese Assoziation weist unmissverständlich darauf hin, dass das Weiß in dieser Inszenierung nicht für Unschuld steht – vielmehr konnte es auf eine farblose Persönlichkeit deuten oder, bei Caspary, auf eine wechselhafte Identität, die alle Farben in sich trägt. In der Tat hatte der Hochstapler Caspary ständig mit seiner Identität gespielt und verschiedene Leben geführt, wie seine Äußerungen zur eigenen Biografie zeigen: „Sie würden erschrecken, wenn Sie wüssten, wie sehr ich Sie verstehe und wie nah wir uns gegenüberstehen, Ihr Leben, Kapitän, wäre das einzige, das ich noch hätte führen können, wenn ich mich nicht für mein Leben entschieden hätte, oder für meine drei Leben", sagt Caspary zu Freytag. Dagegen drückt Freytags Kostümfarbe Ruhe und Entschlossenheit aus, während Freds graue Kleidung als Hinweis auf Unbestimmtheit verstanden werden kann. Es ist diese unklare Nuance, die durch ihre Verwandlung in der Endszene das Farbenspiel bedeutungsvoll macht: in dem Scheinwerferlicht, das in den letzten Sekunden an Intensität zunimmt, scheint das bläuliche Grau genauso hell wie die weiße Farbe der Verbrecher. Unter den vier Männern, die sich im entscheidenden Moment auf der Bühne befinden, sehen drei – rein farbig betrachtet – ähnlich aus, während der vierte, nämlich Freytag, einsam und gefährdet inmitten der anderen wirkt. Das numerische Gleichgewicht zwei-gegen-zwei vom Anfang wird hier visuell auffälligerweise zerstört. Nun ist die Frage sinnvoll, ob die Tatsache in Übereinstimmung zu den weiteren szenischen Zeichen steht. Ist also Freytag derjenige, der beseitigt wird?
    Stellen wir uns die genauen Verhältnisse in dieser Schlüsselszene der Inszenierung vor: Caspary und Eddie, die zwei gebliebenen Mitglieder der Bande, tendieren unter Zeitdruck dazu, die vorhandenen Waffen für ihre Zwecke zu benutzen, sollten die Schiffsleute von ihrer Entscheidung nicht abgehen. Diese sind sich aber nicht einig: anders als der Kapitän zeigt seine Crew Kompromissbereitschaft. Der Grund dafür, meint Fred, sei der Tod eines Besatzungsmitgliedes, jedoch der gesüßt klingende Ton des Schauspielers deutet auf einen weiteren möglichen Grund hin: zu diesem Zeitpunkt ist eine frühere Szene noch frisch in Erinnerung, in der Casparys Bestechungsversuch bei Freytag keinen Erfolg hatte, was aber nicht ausschließt, dass sich Fred inszwischen bestechen ließ. Fakt ist, dass die Besatzung sich weigert, die Befehle des Kapitäns auszuführen. Als Konsequenz steht Freytag allein gegen Männer, die sich untereinander verständigt haben und dazu noch Waffen tragen: während Eddie die Waffe bereit hält, will  Caspary mit dem Zählen anfangen. Freytag bestätigt seinen Beschluss nochmals und bekräftigt ihn sogar mit den Worten: „Ihr könnt schießen!“ Gleich nach diesen Worten dreht sich Matthes um und übernimmt für die gebliebenen Augenblicke – als einziger unter den vier Männern – die Rückenstellung gegen das Publikum. Diese Stellung ist nur unter gewissen Umständen als Tod zu deuten, vielmehr steht sie, allgemein betrachtet, für Ablehnung als Ausdruck des Scheiterns in menschlichen Verhältnissen, Aussetzung des Dialogs mit dem Publikum, Rücktritt von den Mitmenschen, Bedürfnis nach Einsamkeit und Hinwendung zu sich selbst. Bei der genauen Deutung der Rückenstellung ist es wichtig, immer den Kontext zu beachten. Im „Feuerschiff“ wird durch ihre Verwendung einen Bogen hin zu einer früheren Szene gespannt, was zu weiteren hilfreichen Gedanken führt. Am Anfang der Aufführung wird Freytag von Caspary nach seinen Vorfahren gefragt, derer Bilder sie angeblich gerade betrachten. Diese existieren nicht. Die Schauspieler stehen dem Publikum gegenüber und kommentieren die traurigen Gesichter, die sie (auf den Bildern) sehen, während sich die Zuschauer angesprochen fühlen und diese spielerische Rollenzuweisung mit vergnügtem Lachen belohnen und billigen. In diesem Kontext lässt sich Matthes‘ Rückenstellung in der Endszene eher nicht als Aussetzung des Dialogs mit dem Publikum auslegen, sondern vielmehr als die Eingliederung seiner Figur in die Masse der Vorfahren, als Trennung von den Lebendigen und Einwilligung in den Tod. Noch ein letztes Zeichen steht uns zur Verfügung für die Bestätigung dieser Hypothese: die Videoprojektion zum Schluss der Aufführung. Darin kann mann beobachten, wie das Wasserniveau ständig steigt, bis es bald den ganzen Schirm bedeckt. Es sieht aus, wie das langsame, widerstandslose Untertauchen eines toten Körpers. Alle diese Anmerkungen führen zur Schlussfolgerung, dass die Inszenierung unverkennbar auf den Tod, den entgültigen Rücktritt von den Mitmenschen, hinweist.     
    Bei jeder theatralen Gelegenheit, die „Das Feuerschiff“ bietet, ist der Zuschauer Zeuge einer Handlung mit tragischem Ausgang, wobei sich der Hauptverantwortliche in einer Krisesituation keiner Unterstützung von seinen Leuten erfreut. Im Gegenteil, diese lassen sich von Zweifel an seinen Entscheidungen und Verachtung gegenüber seinem Charakter überwältigen. Der Sohn des Kapitäns, Fred, benutzt die heikle Situation auf dem Schiff um den Konflikt mit seinem Vater in Flammen zu setzen, statt die eigentliche Gefahr wahrzunehmen und dementsprechend zu reagieren. Das führt zwangsläufig zur Schwächung und Destabilisierung der Besatzung – ein optimaler Hintergrund für das Eingreifen böse gesinnter Kräfte, die Menschen für sich gewinnen wollen. Wir wissen nicht, wie der Verlauf der Ereignisse hätte aussehen können, hätten die Schiffsleute ihrem Kapitän beigestanden. Wir können ausschließlich aus den dargestellten Geschehnissen urteilen, inwiefern die persönliche Entscheidung für Misstrauen und Verrat im Kontext der bewaffneten Gefahr vernünftig war. Darauf bietet der beschriebene Ausgang der Handlung die beste Antwort. Aus dem Zusammenhang wird ersichtlich, dass die Inszenierung zum Vertrauen gegenüber dem erfahrenen Entscheidungsträger mahnt – und also zum Zusammenhalt als kollektives Benehmen vor der bewaffneten Gefahr. 

    Was die Inszenierung „Das Feuerschiff“ vor allem kennzeichnet, ist die Tatsache, dass sie die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufhebt: nicht nur ihre Thematik, sondern auch die Bearbeitung politischer Fragen erweisen sich als höchst relevant für die heutige europäische Krise im Kontext des Terrorismus. Das Theater hat es sich hier zur Aufgabe gemacht, vor einer ähnlichen Gefahr menschliche Entscheidungen zu zeigen, die zur Katastrophe führen. Es ist aber unsere Aufgabe, wie wir dieses Ergebnis unserem Leben anpassen, wie wir also das Theater überhaupt verwenden. Während wir im Laufe des Abends in die Rolle vergangener Figuren versetzt wurden, als Freytags Vorfahren, sind wir doch zugleich Mitglieder der Gesellschaft und tragen zur Gestaltung politischer Zukunft bei. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns nur ein paar Stunden Zeit nach der Aufführung nehmen, um eine schnelle Empfehlung zu schreiben, und damit die Sache als erledigt betrachten. Es ist unsere Entscheidung, uns mit dem Schluss zufriedenzugeben, dass die Inszenierung keine Antwort auf die gestellte Frage gegeben hat, anstatt dass wir uns selber damit beschäftigen. Es ist also unsere Entscheidung, eine Inszenierung zu bewerten, ohne uns verantwortlich zu fühlen, für unser eigenes Leben Schlüsse zu ziehen. Wenn aber das Theater – wie in diesem Fall – genauso wie ein Feuerschiff auf einem gefährlichen Meer Signale zur Orientierung gibt, können wir es uns vor dem heutigen politischen Hintergrund leisten, an diesen Signalen vorbeizugehen, ohne sie verstehen zu wollen?
     

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